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Zwei Drittel der Bundesbürger haben das Gefühl, dass der Zustrom von Flüchtlingen in die Europäische Union unbeherrschbar ist. Dieser Eindruck täuscht nicht. Er erinnert fatal an die Schuldenkrise.
Bei der Zuwanderung ist es ähnlich wie bei der Finanzpolitik: Deutschland hat seine politische Gestaltungsmacht weitgehend einem Gemeinschaftssystem anvertraut, das die Pflichten der Einzelstaaten in einem gemeinsamen europäischen Raum festlegt. Bisher hatte man den Eindruck, dass dieser Migrationspakt trotz mancher Lücken funktionierte, insbesondere in Gestalt der sogenannten Dublin-Abkommen. Dort wurde unter anderem vereinbart, dass die Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten zur Klärung ihres Status zunächst in jenen Staaten aufgenommen werden, in die sie zuerst einreisen.
Das war eine essenzielle Regelung, damit Migranten nicht ohne geklärten Status in den 500-Millionen-Bevölkerungsraum der EU entlassen werden und willkürlich zirkulieren. Jeder größere Territorialstaat dieser Welt trifft eine solche Regelung und setzt dafür seine Grenzregionen (und seine Flughäfen) als Auffangräume ein. Mit den Dublin-Abkommen war also die Erwartung verbunden, dass durch eine EU-Regelung die gleiche gesetzliche Stabilität hergestellt würde, wie es sie bisher auf der Ebene der Einzelstaaten gab.
Diese Erwartung erweist sich nun als Täuschung. Die Dublin-Abkommen sind im Kern außer Kraft gesetzt. Steffen Angenendt, der von 2011 bis 2013 als Berater für Migration im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) war, sagt: „Den Staaten an Europas Außengrenzen gelingt es nicht, ein vernünftiges Asylsystem aufzubauen.“ Diese Länder ließen die Flüchtlinge oft durchreisen.
Familien sind in der Minderzahl
Die Migranten gingen dorthin, „wo sie gut behandelt werden und wo sich schon Verwandte und andere Flüchtlinge aus ihrem Land aufhalten“. Deutschland bewältige daher momentan „fast im Alleingang die Flüchtlingsaufnahme in Europa“. Das ist bisher in dieser Klarheit noch nicht öffentlich gesagt worden. Wenn es stimmt, haben wir es in der Migrationspolitik der Europäischen Union mit einem systematischen Rechtsbruch zu tun.
Die südlichen Randstaaten der EU verweigern ihren Beitrag. Zugleich weigert sich die EU-Kommission, die Verletzung der Dublin-Abkommen zu sanktionieren und an der Wiederherstellung des Migrationspaktes zu arbeiten. Das nennt man einen geduldeten außergesetzlichen Zustand.
Einerseits wird europaweit die Hilfe für Flüchtlinge in Not angemahnt und damit ein Öffnungsdruck erzeugt, andererseits wird die Kontrolle an den Eintrittsorten verweigert. Der Druck von außen durch Zuwanderungsbegehren aller Art wird in eine interne Wanderungsanarchie übersetzt. Das aber heißt in der Konsequenz, dass unter den Zuwanderern die Bessergestellten und die Besservernetzten die Gewinner sind.
Hingegen bleiben diejenigen, die am meisten Not leiden und die deshalb besonders auf die rechtsstaatlichen Verfahren angewiesen sind, auf der Strecke. So sind unter denen, die jetzt in Europa um Notaufnahme ersuchen, Familien in der Minderzahl. Auch sind es keineswegs die Flüchtlinge aus dem syrisch-irakischen Kriegsgebiet, die den Hauptteil stellen.
Noch eine Transferunion
Zugleich wird die ungeregelte Zuwanderung zu einem Umverteilungsinstrument zwischen den EU-Ländern. Mit dem ungeprüften „Durchreichen“ von Migranten werden Ansprüche an die Wohnungsversorgung, an das Gesundheits- und Bildungswesen, an die Sozialversicherungen zwischen den Mitgliedsstaaten weitergereicht. Manche Deutschlandkritiker im Süden Europas sehen das als legitimen Ausgleich zwischen „armen und reichen EU-Staaten“ an.
Gewiss ist es gerecht, wenn einzelne Mitgliedsstaaten der EU einen Ausgleich für ihre Erstaufnahme-Arbeit bekommen, aber dies erfordert einen Gesamtvertrag mit Leistung und Gegenleistung – mit Zahlen und Quoten für Arbeitsimmigration, für kurzfristige Flüchtlingshilfe und für die Gewährung längerfristigen Asyls. Doch für einen solchen Gesamtvertrag ist in der EU offenbar kein Konsens herstellbar.
Diese Situation erinnert fatal an die Schuldenkrise. Auch dort gibt es Schwierigkeiten, im System der EU eindeutige Verantwortlichkeiten herzustellen und die Schulden nicht unkontrolliert zirkulieren zu lassen. Auch dort droht die Gefahr, in eine Transferunion jenseits aller vernünftigen Haftungsgrenzen hineinzuschlittern.
In der Schuldenkrise ist zumindest im Grundsatz anerkannt, dass die Bürger der einzelnen Mitgliedsstaaten nur begrenzt für die Schulden anderer Länder haften. Und es ist verfassungsrechtlich festgestellt, dass hier die Rechte und Pflichten der nationalen Parlamente berührt sind. In der Migrationskrise gibt es eine solche Klärung bisher nicht. Wir bewegen uns auf der Ebene von Pauschalaussagen und Ad-hoc-Programmen.
„Augen zu“ und Durchwinken
Vor diesem Hintergrund hat die gegenwärtige Diskussion über „Angst“, „Mut“ oder andere moralische „Grundeinstellungen“ zur Migration etwas geradezu Gespenstisches. Man streitet über die richtige Form der Begrüßung und lässt alle härteren und langfristigen Anforderungen, die jede Integration stellt, unbeachtet. Eine politische Gestaltungsaufgabe wird nicht formuliert.
Deshalb ist auch die Krise, in der sich die EU-Migrationspolitik befindet, bisher kaum zum Thema geworden. Es ist noch nicht einmal offiziell festgestellt, dass es hier eine Krise gibt. Außer bei spektakulären Notfällen erfährt man kaum etwas über die Praxis der verschiedenen Behörden. Es gibt keine Anfragen von Abgeordneten zur Umsetzung der Dubliner Abkommen.
Nur hier und da kommt in Einzelfällen zum Vorschein, wie viel „Augen zu“ und Durchwinken inzwischen bei der Zuwanderung herrscht. Dieser undurchsichtige Migrationskomplex muss ganz unvermeidlich das Misstrauen und die Erbitterung von Bürgern wecken, zumal sie in ihrem beruflichen und privaten Alltag oft mit der kleinlichsten Bürokratie und Regelungswut konfrontiert sind.
Angesichts weiter wachsender Migrationsströme sind moralische Appelle und Verdächtigungen die falsche Antwort. Gebraucht wird das klare Maß und die Verbindlichkeit von Gesetzen. Denn Einwanderung ist kein Kinderspiel. Das Vakuum, das der Bruch des EU-Migrationspaktes hier erzeugt hat, muss schnell gefüllt werden – europäisch oder einzelstaatlich.